Radio-Vision

  • Kolumne von 1998

    RADIO DER ZUKUNFT

„Kannst du mir mal deine Radio-Vision schreiben“, hat mich mein Kollege Stephan Brünjes Ende 1997 gefragt. Ich war zu der Zeit gerade frisch Moderator der Morningshow bei NDR 2 und Stephan schrieb an seinem Buch „Radio-Report“. Über Programme, Profile und Perspektiven. Mit vielen Gastbeiträgen von Radioleuten.

Bei NDR 2 kam die Musik von CD und Hörerwünsche per Fax. Gerade mal 6 Millionen Computer waren weltweit mit diesem „Internet“ verbunden. „Ich bin drin“ frohlockte AOL, als wäre es an einem digitalen Türsteher vorbeigekommen. Streaming, Zoomcalls, selbst Google (1997 gegründet) – alles in weiter Ferne!

Stephan hat mir meinen Text von 1998 noch einmal geschickt und ich war einfach baff. Ich hätte ins Silicon Valley gehen sollen. Ich dachte mir, Ihr solltet das vielleicht mal lesen. Hier ist die Vision von damals:

Live von der Finca aus Inca

Was für ein Tag in Cala Figuera! Keine Wolke am Himmel, 33 Grad im Schatten. Ich sitze in einer kleinen Bar und blicke verträumt hinunter auf eine der schönsten Buchten Mallorcas. So verträumt, daß ich die Tuscheleien der Touristen um mich herum kaum wahrnehme. Was macht der Mann mit seinem Laptop hier an der Bar, raunen sie sich zu und zeigen auf mich. „Ein Buch wird er nicht schreiben“, meint einer, „dazu braucht er keinen Kopfhörer und kein Mikrofon.“ Was sie nicht wissen: in zwanzig Minuten gehe ich von hier aus für NDR 2 live auf Sendung.

High-Tech-Handy!

Als ich vor vier Jahren nach Mallorca gezogen bin, haben wir uns verständigt, daß ich von hier aus sende. Nichts Außergewöhnliches, denn meine Kollegen moderieren aus London, Kreta und Key West. Wäre doch nur das spanische L-Netz ein bißchen stabiler, dann könnte ich die Zwei-Stunden-Sendung über mein High-Tech-Handy (Anmerkung 2021: Smartphone!) laufen lassen. Ein Jahr wird es bis dahin wohl noch dauern. Solange bin ich immer noch auf die gute alte ISDN-Dose angewiesen. Der Laptop ist eingestöpselt, ich schalte ihn an, gebe das Passwort ein und bin drei Sekunden später im Internet. Automatisch lande ich auf der NDR 2-Homepage und höre das „Heimatprogramm“ aus den Miniboxen des Laptops.

Ein kurzes Zirpen, ich drücke F6 und mein NDR 2-Programmchef erscheint auf dem Display: „Du bist klar, Uwe? Ist die Musik angekommen?“, fragt er. „Ja, alles bestens“, bestätige ich. Seit ich diese neue PC-Card habe, dauert die Übertragung von zwei Stunden Musik gerade mal 20 Minuten. Solange mußte man vor zwölf Jahren warten, um einen einzigen Musiktitel in den Computer zu laden.

Videokonferenz

Der Kellner unterbricht unsere Videokonferenz (Anmerkung 2021: Zoomcall!): „Café con leche, Senor?“ „Gracias!“ Jetzt schaltet sich der NDR 2-Musikchef zu: „Hör Dir mal die Neue von den Rolling Stones an. Wenn Du willst, lad´ sie Dir von der Homepage der Plattenfirma runter und spiel’ sie, Mick Jagger hat morgen Geburtstag, er wird 67.“

Noch zehn Minuten bis zur Sendung. Da kommt mein Gast für die Sendung in die Bar geschlendert. Ein schokoladenbrauner Junge, der die Tennis-Welt erobern will, so wie sein Vater vor knapp 30 Jahren. Noch fünf Minuten. Höchste Zeit, die Reglereinheit an den Laptop anzudocken. Damit wird das Programm gesteuert, wie früher in den großen Sendestudios. Jetzt schicken sie mir aus Hamburg die Verkehrsmeldungen auf den Schirm. Das ist skurril: fünf Kilometer stockender Verkehr vor dem Elbtunnel und ich schaue auf den verschlafenen Hafen von Cala Figuera.

Sendegebiet: World Wide Web

„Zehn, neun, acht… das Sendungsjingle ertönt, die Show läuft. Und zwar nicht nur in Norddeutschland, sondern weltweit, denn das Sendegebiet eines jeden Radiosenders ist längst das „World Wide Web“, also das Internet (Anmerkung 2021: Streaming!). 720.000 Programme können die Norddeutschen theoretisch empfangen. Ihr Lieblingsprogramm ist „www.swed-pop.com“, eine schwedische Popwelle aus Göteborg. Sie erreicht 5,3 Prozent Reichweite. Eine gigantische Zahl, die meisten anderen Programme kommen nicht über ein Prozent hinaus. Und die Zeiten mit zweistelligen Quoten sind schon lange vorbei.

Gesprochene e-mail!

„Hallo NDR 2, hier ist Torsten aus Hannover, ich mache gerade Urlaub in Porto Petro und drücke Noah-Gabriel die Daumen für sein erstes Wimbledon-Turnier“, ertönt es aus meinem Laptop. Becker-Junior als Gast in der Sendung ist genauso populär wie sein Vater früher. Doch Noah-Gabriel nimmt die guten Wünsche kaum wahr, er bestaunt den Laptop: „Den Gruß von diesem Torsten schneidest Du jetzt, während die Sendung vom Laptop aus weiterläuft?“

Mit diesen Hochleistungs-Computern ist das kein Problem mehr. Hörer schicken ihre Grüße schon lange nicht mehr per Telefon oder Postkarte, sondern als gesprochene E-Mail (Anmerkung 2021: WhatsApp Sprachnachricht). Es wird kurz bearbeitet, mit einem Klick in den Sendeablauf geschoben, fertig.

Zwei Stunden Sendung vergehen wie im Flug. Es ist mehr Urlaub als Arbeit. Hinterher schnell noch ein Kurz-Interview mit Becker-Junior für die anderen drei übrig gebliebenen ARD-Sender. Ich schicke es per Internet gleichzeitig nach Köln, München und Berlin. Dann zirpt es, ich drücke F6. Der Programmchef erscheint nochmal: „Dein Interview mit Becker-Junior war zu lang, hör es Dir mal an!“ Werde ich machen, schließlich speichert der Laptop sämtliche Sendungen automatisch. 8000 Gigabyte auf der Festplatte sind zwar nicht allzu viel Speicherkapazität dafür, aber wenn man die Daten so alle sechs Monate löscht, dann klappt es.

Ich drücke dem Kellner 2000 Peseten für den Café con leche und die ISDN-Gebühren in die Hand und bevor ich den Laptop ausschalte, höre ich den Trailer auf NDR 2: „Morgen wieder das Sommerradio aus Mallorca – Uwe Bahn meldet sich von einer Finca in der Nähe von Inca.“ Ich freu’ mich drauf!

(Quelle: Stephan Brünjes/Ulrich Wenger: Radio Report. Programme – Profile – Perspektiven, TR-Verlagsunion, München 1998)

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